Jeder kennt die Auftritte von Zeitzeugen im Rahmen des Schulunterrichts, wo Schüler und Schülerinnen meist ehrfürchtig den Berichten von Ereignissen aus der Vergangenheit lauschen. Oder wir sind Zeitzeugenberichten auf öffentlichen Gedenk- und Mahnveranstaltungen begegnet. In all diesen Situationen sollen die Zeitzeugen wie ein lebendiger Beweis für die Wahrhaftigkeit des Gesagten wirken.
Was hier in wenigen Worten nur oberflächlich beschrieben ist, ist nicht Oral History. Oral History ist vielmehr.
Oral History ist:
a) Mündlich überlieferte Geschichte:
Die direkte Übersetzung von Oral History verrät zunächst nur etwas über die Art der Überlieferung. Es handelt sich um eine historische Überlieferung durch Gespräche bzw. Interviews. Offen bleibt jedoch die Frage, was oder welchen Teil der Geschichte wir erwarten überliefert zu bekommen.
b) Erinnerte Geschichte:
Führen wir Interviews mit Zeitzeugen durch, so sind wir an den Erinnerungen der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen interessiert. Es ist das Ziel, dass der Zeitzeuge oder die Zeitzeugin sich tatsächlich während des Interviews erinnert und nicht eine fertige Geschichte referiert wird. Das aktive Erinnern hat Bestandteil des Interviews zu sein. Aber was soll der Zeitzeuge für uns erinnern?
c) Erlebte Geschichte:
Wir erwarten, dass der Zeitzeuge so etwas wie ein Garant für die Richtigkeit der überlieferten Informationen ist. Das ist jedoch nur möglich, wenn er das, was er berichtet, auch wirklich selbst erlebt hat. Wenn der Zeitzeuge uns berichtet, was er irgendwann von irgendwem erzählt bekommen hat, so mag es interessant sein, etwas über bestimmte Informationsströme zu gewissen Zeiten zu erfahren. Für den Gehalt der Informationen kann der Zeitzeuge jedoch nicht einstehen. Wenn wir wissen, was wir erwarten, wie erreichen wir also, dass der Zeitzeuge des Erlebte für uns erinnert und mündlich überliefert?
d) Erfragte Geschichte:
Was während eines Zeitzeugeninterviews passiert hängt ganz maßgeblich von den Fragen des Interviewers oder Interviewerin ab. Die Fragen sind die entscheidenden Impulse für das Erinnern und Erzählen. Der Interviewer ist derjenige, der den Verlaufsprozess des Interviews führt. Die Kunst liegt darin, dem Zeitzeugen dabei Freiheit des Erzählens zu lassen.
Wichtig:
Für die Oral History gelten die üblichen Regeln der Quellenkritik. Die auszuwertende Quelle ist weder allein die Interviewsituation, noch eine entstandene Aufnahme oder die Transkription. Die Quellenkritik setzt mit der Vorbereitung des Interviews an. Wen interviewe ich warum worüber? Im Unterschied zu anderen schriftlichen, bildlichen oder gegenständlichen Quellen ist man in der Oral History an der Produktion der Quellen beteiligt und hat durch die Auswahl der Zeitzeugen, die Wahl der Fragen und die Gestaltung der Interviewsituation maßgeblichen Einfluss auf den deren Inhalt.
Subjektivität:
Es muss klar sein, dass wir subjektive persönliche Informationen erhalten wollen. Wir erwarten Geschichte aus einer individuellen Perspektive. Diskussion, Bewertung und Reflexion des Interviewten über seine eigene Geschichte sollte nicht Teil eines Oral History Interviews sein. Das ist auch wichtig für eine vertrauensvolle Atmosphäre.
Oral History ist ein integraler Bestandteil der
historischen Projektarbeit. Oral History macht die Wirkungswege des historiographischen Arbeitens unmittelbar erfahrbar.